Gnostica

Portal zur Bewußtseinserweiterung über die Gnosis. Vorbereitung auf den Aufstieg.

Aufbruch in die unbekannte Welt der Gnosis

Wenn das Wort „Gnosis“ gelesen oder gehört wird, weiß im Allgemeinen niemand, um was es geht. Vor allem zwei Gründe sind dafür ausschlaggebend.

Der erste Grund besteht darin, dass das Phänomen der christlich geprägten Gnosis hauptsächlich von Christen bekämpft und zum Schweigen gebracht wurde. Die gnostische Bewegung hatte unter den vielen Strömungen des aufkommenden Christentums beträchtliche Ausmaße erreicht und war der Strömung, die heute mit der römisch-katholischen Kirche identifiziert wird, stets ein Dorn im Auge.Gnosis ist heute nur Gelehrten und einigen wissbegierigen Laien ein Begriff. Zu dieser bedeutenden Auslöschung aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit trugen sogenannte Kirchenväter wie Irenäus von Lyon bei, der um das Jahr 180 n. Chr. ein umfangreiches Werk verfasste, um die katholische Lehre von gnostischen und anderen Lehren abzugrenzen und diese als irreführend zu entlarven.

Der größte Feind der Gnosis war jedoch nicht ein Geistlicher, sondern Kaiser Konstantin der Große, der die Verbreitung des Christentums nicht nur erlaubte, sondern auch kräftig förderte. Seine Förderung galt jedoch nur der christlichen Strömung, die ihm als die einzige erschien, die das Reich durch eine einheitliche Konfession zusammenhalten konnte.

Die neue Religionsfreiheit beendete die Verfolgungen von Christen. Es wurde eine Rückgabe aller konfiszierten Gotteshäuser und kirchlichen Güter vollzogen. Der höhere Klerus erlangte Reichtum und Macht durch Schenkungen. Ab diesem Zeitpunkt nahmen die Verfolgten die Rolle der Verfolger ein. Anhänger anderer christlicher Strömungen wurden der Häresie bezichtigt. Klöster wurden beschlagnahmt und gesäubert, gnostische Schriften verbrannt, und als Ketzer verurteilte Vertreter der Gnosis mussten dem Bischof von Rom als Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche Gehorsam leisten, wurden ins Exil geschickt oder sogar exkommuniziert.

 

Der heilige Dominikus und die Albigenser in Albi (1207) – katholische und katharische Schriften werden ins Feuer geworfen, doch nur letztere verbrennen – Pedro Berruguete um 1495.

 

Das Verschwinden der Gnosis aus dem allgemeinen Bewusstsein war also nicht zufällig oder auf mangelndes Interesse zurückzuführen. Eine kirchliche Hierarchie, die bestrebt war, ihre Macht über das gläubige Volk aufrechtzuerhalten, unterdrückte die Gnosis. Um Missverständnissen vorzubeugen, wurde den Gläubigen eindringlich und mehrfach vermittelt, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt („extra ecclesiam nulla salus“).

Der zweite Grund, warum die Gnosis für viele ein Rätsel darstellt, liegt in der Natur der Gnosis selbst. Es handelt sich bei der Gnosis nicht um eine traditionelle Lehre, sondern um ein disruptives Gedankensystem, das vom Leser Geisteskraft, Aufgeschlossenheit und Mut fordert. Menschen mit rechtgläubigen Ansichten werden schockiert von der Gnosis Abstand nehmen und die Gnostiker einfach als Verrückte abtun.

Im Werk Adversus haereses (Gegen die Häresien) bietet der bereits genannte Irenäus von Lyon gleich zu Beginn eine Probe seiner Einstellung: „Es gibt Leute, welche die Wahrheit aus dem Hause schicken, die Lüge aber hereinrufen und endlose Stammtafeln erdenken, die mehr Klügeleien fördern, wie der Apostel sagt, als göttliche Erbauung im Glauben. Durch Scheingründe, die sie geschickt zusammenstellen, verführen sie die Halbgebildeten und nehmen sie gefangen, indem sie des Herrn Worte fälschen und schlechte Deuter seiner guten Reden werden„).

Es ist also nicht verwunderlich, dass die Gnosis aufgrund ihrer unkonventionellen Natur und der sehr effektiven kirchlichen Gegenpropaganda im Laufe der Zeit immer weniger Anhänger gewann. Letztere wurden dazu gezwungen, als Mitglieder von „Geheimgesellschaften“ ihr Interesse an der Gnosis zu verfolgen.

Trotz alledem ist das Licht der Gnosis niemals erloschen. Heute erleben wir durch die sensationelle Entdeckung der Nag-Hammadi-Schriften[1] eine Wiederbelebung der Gnosis. Bis zu diesem Zeitpunkt waren viele dieser Texte, wie das Thomasevangelium, gar nicht oder nur in fragmentarischer Form bekannt. Die indirekten und stark kritischen Werke der Kirchenväter waren die einzigen Quellen für gnostische Texte. Heute hat man die Möglichkeit, sich über die Gnosis direkt von Gnostikern zu informieren. Die Gnosisforschung hat sich dank der Funde von Nag Hammadi erheblich weiterentwickelt, obwohl viele Fragen weiterhin unbeantwortet sind.

Was macht die gnostischen Thesen so provokant, dass sie bei Kirchenvätern, die für ihre Gelehrsamkeit und Heiligkeit geschätzt wurden, Angst und Zorn hervorriefen? In dieser Hinsicht stechen drei Thesen besonders hervor.

 

Die provokanten Thesen der Gnosis

 

Der Schöpfer dieser Welt ist nicht der wahre Gott

 

Die grundlegendste und bedeutsamste These, auf der alle Thesen von der Gnosis basieren, lautet: Der Gott dieser Welt ist nicht der wahre Gott.

Der Gott, der in der jüdischen und christlichen Tradition allgemein anerkannt ist und im Wesentlichen im Alten Testament (für die Juden: im Tanach) beschrieben wird, ist kein wahrer Gott. Er selbst ist ein Geschöpf und zudem eines mit Mängeln. Obwohl er ein Schöpfer ist, schafft er doch nur Unvollkommenes, das die Mängel des Schöpfers widerspiegelt.

 

Ich bin der HERR und sonst niemand; außer mir gibt es keinen Gott. … Ich bin der HERR, der ich das Licht mache und die Finsternis schaffe, der ich Frieden gebe und das Übel schaffe.“ Jes 45:5-7

Nur weil jemand etwas erschafft, ist er nicht automatisch ein Gott. In diesem Kontext ist der biblische Gott nicht der einzige oder „ultimative“ Gott, sondern ein Demiurg. Dieses Wort stammt vom altgriechischen dēmiurgòs („öffentlicher Arbeiter“) ab und wurde von Platon verwendet, um einen göttlichen Handwerker zu beschreiben. Ein solcher göttlicher Handwerker nutzte seine Klugheit und Fertigkeiten, um die Welt zu formen. Er wurde von einer überlegenen Idee als Modell inspiriert und nutzte das bereits vorhandene Chaos als Rohmaterial.

Das ist so, als würde ein Maler in seinem Kopf ein schönes Bild entwerfen. Um dieses Bild lebendig werden zu lassen, verwendet er eine Leinwand, Farben und Pinsel und kreiert ein Gemälde. Er schaut sich das Werk, nachdem es vollendet ist, noch einmal an und bekundet seine Zufriedenheit („Gott sah, dass es gut war.“ [Gen 1,25]).

Der wahre Gott hat mit all dem nichts zu tun. Aus Ihm entstehen neue Wesen und Wirklichkeiten nicht aus dem Nichts, sondern durch Emanation aus sich selbst.

In den gnostischen Berichten geht eine weitreichendere und bedeutendere Phase der Emanation der biblischen Schöpfung voraus, die nur deren letzten Akt darstellt.

Emanation und Schöpfung sind nicht identisch. Die im Buch Genesis beschriebene Schöpfung erfolgt aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Es gibt eine grundlegende Trennung zwischen Schöpfer und Schöpfung. Emanation (abgeleitet vom Lateinischen emanatio „Ausfließen“, „Ausfluss“) hingegen bezeichnet das „Hervorgehen“ von etwas aus seinem Ursprung, das es aus sich selbst hervorbringt. Es wird dabei metaphorisch auf die Vorstellung des Ausfließens von Wasser aus einer Quelle oder der Lichtausstrahlung aus einer Lichtquelle verwiesen.

Laut Gnosis war dem Schöpfer beim Entschluss, „Erde und Himmel“ zu schaffen, bereits chaotisch angeordnete Materie zugänglich. Diese Materie stellte das letzte Produkt einer langen Emanationsreihe dar, die mit dem Urlicht begann und mit der finsteren Materie endete (Gen 1,2: „Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut“).

Über den wahren Urheber des Alls („der Eine“) einschließlich des Schöpfergotts selbst lässt sich nicht viel sagen, da der Eine unbegreiflich und jenseits jeglicher Vorstellungskraft ist. Das, was man von ihm sagen kann, ist allerdings überwältigend. Der gnostische Text Tractatus Tripartitus (TracTrip, NHC I, 5, S. 52-53) beschreibt Ihn folgendermaßen:

Er existierte schon, bevor irgend etwas anderes überhaupt existierte. Er ist das Urprinzip und daher einzig. Er ist aber auch die Vielfalt. Er ist der erste und sich selbst immer gleich. Dass er einzig ist, heißt aber nicht, dass er einsam ist. Er ist vielmehr wie eine Wurzel, die den gesamten Baum samt Zweige und Früchte in sich trägt. Ein Vater trägt auch den Samen in sich, aus dem später sein Sohn hervorgehen wird. Der Vater ist das Urprinzip, das der Eine und das Ganze, die Einheit und die Vielheit zugleich ist.

Die Thesen der Gnosis stimmen mit den Aussagen Jesu überein. Jesus bezog sich nie auf den Demiurgen oder den biblischen Schöpfer, sondern auf den wahren Gott, den er „Vater“ nannte. Der „Vater im Himmel“, von dem Jesus sprach, ist nicht mit dem biblischen Schöpfergott ident.

 

Der Mensch ist in dieser Welt gefangen

 

Die zweite von der Gnosis formulierte These lautet wie folgt: Der Mensch ist ein Sklave des Demiurgen und vegetiert in einer lichtlosen Welt gefangen.

Diese Aussage, die sich gewiss nur schwer verdauen lässt, klingt schockierend – doch wie jede Wahrheit bietet sie eine vielversprechende Perspektive, wie es bald deutlich wird.

Die Vertreibung des Menschen aus einem vermeintlichen Garten Eden erfolgte nicht aufgrund der angeblichen Sünde, eine verbotene Frucht gepflückt und gegessen zu haben. Dieses groteske Märchen, das einem gläubigen Volk seit Jahrhunderten erzählt wird, dient der psychologischen Manipulation und verhindert, dass die Gläubigen eigenständig denken. Es soll die Realität verdunkeln, indem die Behauptung aufgestellt wird, der erste Mann und die erste Frau hätten Unrechtes begangen, weshalb die Menschheit im Exil leben und die Verantwortung für die Schuld ihrer Vorfahren tragen müsse.

Die Gnostiker behaupten, die Wahrheit sei anders und kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Weil der Demiurg, der mehr wollte, als nur sein eigenes Reich zu erschaffen, den wahren transzendenten Gott nicht kannte, versuchte er, das herrliche Licht aus den höheren Sphären in eine materielle Form zu bannen, damit es sich seinem Willen fügte. Mit Hilfe der ihm zur Verfügung stehenden kosmischen Mächte – den Archonten[2] – erschuf er einen Protoplasten[3] und „hauchte“ ihm die Seele ein. Sie wusste nicht, dass sie einen Funken des göttlichen Lichts in sich trug.

Der erste Mensch wurde als Sklave erschaffen. Auch aus der Genesis geht hervor, dass Adam als Gärtner arbeitete. (Gen 2,15: „Gott, der Herr, nahm den Mann und setzte ihn in den Garten Eden, um ihn zu bebauen und zu behalten.„).

Gott ist Licht. Licht bleibt Licht, egal wo es gefunden wird. Selbst wenn es durch Schlamm verunreinigt wird, bleibt Gold wertvoll. Auch wenn man in einer dunklen Welt gefangen ist, wird das Licht in der menschlichen Seele niemals vom Großen Licht, dessen Funke es ist, aufgegeben werden. Dies führt uns zur dritten gnostischen These.

 

Nur die Gnosis kann den Menschen retten

 

Die dritte Gnosis-These lautet: Wenn der Mensch Selbsterkenntnis erlangt, wird der in ihm verborgene Lichtfunke gerettet und kehrt in die Welt des Lichts zurück, aus der er stammt.

Nur einem Wesen von rein gnostischer Art, dem Erlöser, kann die Rettung des Lichtes im Menschen anvertraut werden. Dieser Retter ist ein hochrangiger Abgesandter aus der Region des Pleroma,[4] dessen Mission darin besteht, Seelen, die sich nicht ihres Zustands der Versklavung durch die Materie bewusst sind, Gnosis zu bringen.

Gnosis bedeutet Wissen, jedoch nicht in dem Kontext einer rationalen Perspektive, die durch wissenschaftliche Untersuchungen oder kritische Reflexion erreicht wird, wie es in der griechischen Philosophie der Fall ist, noch als Wissen über angebliche göttliche Gesetze, wie sie in der Bibel vorkommen. Gnosis ist ein göttliches Wissen, das durch die Offenbarung des wahren Gottes über den Erlöser vermittelt wird. Sie stellt Erkenntnis darüber dar:

  1. wer wir waren und was aus uns geworden ist, 2. wo wir waren und wohin wir gebracht wurden, 3. wohin wir eilen, wovon wir erlöst werden und 4. was Geburt und Wiedergeburt sind.“ (Excerpta ex Theodoto, 78)

Das Evangelium der Wahrheit, das Teil der Nag-Hammadi-Bibliothek ist, beschreibt das Konzept der Gnosis folgendermaßen:

Jeder, der solches Wissen erlangt, erkennt, woher er gekommen ist und wohin er geht. Er erkennt (es) wie einer, der betrunken war und sich von seiner Trunkenheit bekehrte: Nachdem er zu sich selbst zurückgefunden hatte, brachte er sein Eigentum in Ordnung.“ (EV NHC I.3/XII.2), S. 22).[5]

Der unbekannte Gott, [6] der absolut unerreichbar ist, bringt den Menschen gnädigerweise mit der Gnosis in Kontakt. Es gibt keinen direkten Zugang zu ihm. Er bahnt der auserwählten Seele den Zugang und zeigt sich ihr in einer Ekstase. Gnosis eröffnet ihr die Einsicht in ihre weltliche Lage: Sie wird sich dessen bewusst, dass sie in der Materie gefangen ist und dass das Wissen, das sie sich aneignet, ihr zugleich eine Rückkehr in die göttliche Welt ermöglicht, aus der sie ursprünglich stammt.

 

Der Ruf

 

Dieses Wissen erlangt sie durch einen erschütternden Ruf, der als göttliche Offenbarung kommt. Das sogenannten Lied von der Perle (Thomasakten 108–113) beschreibt auf eindrucksvolle Weise den Ruf, der dem Menschen das Bewusstsein für seine himmlische Herkunft zurückgibt.

Lied von der Perle

Der Hymnus erzählt die Geschichte eines Königssohnes, der das Reich seines Vaters verließ, um in Ägypten nach einer kostbaren Perle zu suchen, aber dort, in der Fremde, seine Herkunft und seine Aufgabe vergaß. So wird das Schicksal der Seele angedeutet, die schlafend in der Welt verweilt und vergessen hat, woher sie stammt und was ihr bestimmt ist.

Als seine Eltern, die in ihrer Heimat verblieben waren, schmerzlich erkannten, was mit ihrem Sohn in einem fremden Land geschehen war, schrieben sie ihm einen Brief mit der Botschaft: „Erwache aus deinem Schlaf und höre auf die Worte unseres Briefes. Denke daran, dass du der Sohn von Königen bist. Beachte, dass du dich einem knechtischen Joch unterworfen hast. Denk an die Perle, für die du nach Ägypten gefahren bist.

Der Brief wurde einem Adler anvertraut, der ihn mit seinem Geschrei und dem Flattern seiner Flügel aus dem Schlaf weckte. Die Wirkung des Briefes ist eine befreiende: „Die Worte des Briefes spiegelten genau das wider, was in meinem Herzen war. Ich nahm an, ich sei der Königsspross, weshalb meine Freiheit ihrer wahren Natur entsprechen müsse. Ich dachte an die Perle, wegen der ich nach Ägypten gereist war.“ Er kann dem schrecklichen Drachen, der sie bewacht, die Perle entreißen, seinen Weg zurück in die Heimat fortsetzen und sich glücklich mit seinen Eltern vereinen.

Die Befreiung geschieht somit durch die Rückkehr zum Ursprung: Der im Menschen verborgene göttliche Keim wird auf diese Weise befreit und seiner wahren Bestimmung zugeführt. Das durch den Ruf geweckte Wissen bedeutet nicht nur, dass der Mensch sich seines Zustands bewusst wird, sondern verleiht ihm auch die Fähigkeit, die Gefängniswärter zu täuschen und seine Reise in die Heimat fortzusetzen.

 

Der Erlöser

 

Der Überbringer dieser Botschaft kam in der Gestalt eines Erlösers, der von Gott gesandt wurde. Getarnt durchdrang er die Sphären und gelangte unerkannt zu den Menschen auf der Erde, um ihnen die befreiende Nachricht zu bringen. Der Erlöser offenbarte sich in Jesus und lebte als Mensch in Judäa.

An dieser Stelle legt die Gnosis nahe, sich vollständig von der Legende eines gütigen Schöpfergottes – wie es die (falsche) Darstellung im Alten Testament andeutet – endgültig zu verabschieden. Der gnostische Erlöser ist nämlich grundlegend anders als der traditionelle christliche Erlöser.

Der gnostische Erlöser kommt nicht, um die Menschen durch einen Opfertod am Kreuz zu retten, wie es die Lehre von der stellvertretenden Sühne behauptet, wonach Christus deren verdiente Strafe auf sich nahm und für die Sünder starb. Wir erinnern uns: Laut dieser Lehre soll Jesus gestorben sein, um die Menschen vor Gottes Zorn wegen der Erbsünde zu bewahren. Um Gottes Gerechtigkeit und seinen rechtlichen Anspruch auf Sündenbestrafung zu wahren, war es angeblich notwendig, dass Jesus stellvertretend für die Sünder bestraft wurde. Der Sünder kann Gottes Vergebung empfangen, weil Jesus Christus stellvertretend für alle Menschen bestraft wurde und somit den vergeltenden Anforderungen der göttlichen Gerechtigkeit genügte.

Hat ein zorniger und sadistischer Gott seinen Sohn ans Kreuz nageln lassen, um Frieden mit den Menschen zu versöhnen? Konnte Gott nur durch dieses grausame Opfer einen Frieden mit den Menschen schließen? Und das alles wegen eines Stücks Obst, das in einer dunklen Zeit gegessen wurde? In der heutigen Zeit können die Menschen nicht mehr verstehen, wie ein liebevoller und barmherziger Gott die Sünden aller Menschen durch das Opfer eines einzigen Menschen, noch dazu seines eigenen Sohnes, hätte sühnen lassen.

Im Gnostizismus ist das Konzept einer stellvertretenden Sühne völlig unbekannt. Es gibt keine Erbsünde, für die eine Wiedergutmachung erforderlich wäre. Der Menschheit nutzt der Erlöser noch viel weniger, wenn er für sie leidet.

 

Die Freude

 

Gnosis umfasst jedoch weit mehr als nur die Berichtigung falscher Deutungen. Sie ist Erkenntnis und damit der Ursprung wahrhaftiger, unendlicher Freude. „Das Evangelium der Wahrheit bedeutet Freude für die, denen es vom Vater der Wahrheit gnädig gewährt worden ist, ihn zu erkennen.“ So beginnt das Evangelium Veritatis (EV NHC I.3/XII.2), das zu den Schriften von Nag Hammadi gehört.

Um beim Evangelisten Johannes zu bleiben: Die Gnostiker sind nicht von dieser Welt, ebenso wenig wie der Erlöser (Joh 17,16). Und genau deshalb, weil sie nicht zu dieser Welt gehören, jubeln sie.

 

Die gnostische Erfahrung

 

Das Himmelreich als gegenwärtige Realität zu erkennen, ist nur jenen möglich, die das Licht unmittelbar erfahren. Aus diesem Grund setzen die Gnostiker ihr Vertrauen in persönliche Erfahrungen und mystische Erleuchtungen, gestützt durch Schriften, die dazu dienen sollen, die Seele für das Licht von der Höhe empfänglich zu machen. Zu diesen Schriften gehören sowohl die kanonischen als auch insbesondere die nicht kanonischen („gnostischen“) Schriften, die von der katholischen Kirche als „häretisch“ ausgeschlossen wurden, als im 4. Jahrhundert der neutestamentliche Kanon aus 27 Schriften gebildet und ins Lateinische übersetzt wurde.

Die gnostischen Schriften, die direkt von Gnostikern verfasst wurden und nicht durch die verzerrende Linse der Kirchenväter, umfassen:

Das Apokryphon des Johannes, das Thomasevangelium, das Philippusevangelium, das Evangelium Veritatis, das Marienevangelium, das Heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes („das Ägyptische Evangelium“), das Tractatus Tripartitus, die dreigestaltige Protennoia.

Nicht in der Nag-Hammadi-Bibliothek enthalten, aber dennoch von großer Bedeutung ist das Werk „Pistis Sophia“, das auf dieser Website zu lesen ist.

 

Schlussfolgerung

 

Diese drei Thesen würden vermutlich ausreichen, um die traditionelle Auffassung unserer Beziehung zur Gottheit zu revolutionieren. Die Gnosis umfasst aber noch viel mehr: Sie ist eine dauerhafte und unerschöpfliche Quelle für Wissen und Glück. Durch sie erreicht der Geist, der die Mysterien des Lichts sucht, Höhen, die er sich nie hätte vorstellen oder auch nur in Betracht ziehen können. Die Lichtwelten, die sie heraufbeschwört, bringen das in jedem Menschen schlummernde Verlangen zum Ausdruck, eine Realität zu entdecken, die geheimnisvoller, strahlender und befriedigender ist als diejenige, mit der er sich täglich herumschlagen muss.

Die Vorstellungskraft spielt in der Erkenntnis eine große Rolle und sollte nicht mit „Tagträumen“ verwechselt werden, die tatsächlich eine fruchtlose Illusion darstellen. Stattdessen ist die Vorstellungskraft ein Hilfsmittel, um eine erhabene, fast magische Realität zu erforschen und sie einzuladen, in uns zu wohnen und uns Schritt für Schritt auf die hohen Pfade der Wahrheit und des göttlichen Lichts zu führen.

 


 

[1] Nag Hammadi ist ein kleiner Ort im Oberen Ägypten

[2] In der Genesis redet der Schöpfer stets im Plural. In Psalm 82 setzt er eine Versammlung der Götter an. Hiob 1:6, zeigt, dass Satan in seiner Gegenwart erscheint, zusammen mit „den Söhnen Gottes“.

[3] Das altgriechische Wort Prōtóplastos, welches aus den Elementen prōto „erster“ und plastós „geformt“ zusammengesetzt ist, bezieht sich auf den ersten von Gott geschaffenen Menschen, insbesondere Adam.

[4] Altgriechischer Begriff (πλήρωμα), der die Gesamtheit der Äonen bezeichnet. Das Pleroma macht die Fülle des göttlichen Seins und der göttlichen Realität sowie des Denkens überhaupt aus, im Gegensatz zum Kenoma (gr. κένομα), das als „Leere“ der Materie verstanden wird.

[5] Alle Nag-Hammadi-Texte (NHC) aus: Nag Hammadi Deutsch, l. und II. Band, Walter de Gruyter Berlin

[6] Mt 11,27

 

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