Gnostica

Portal zur Bewußtseinserweiterung über die Gnosis. Vorbereitung auf den Aufstieg.

Der Sohn

Die Selbsterkenntnis des Vaters

Da der Vater von niemanden begriffen, gesehen, ausgesprochen oder wie auch immer erreicht werden kann, ist es nur logisch, dass es nur einen gibt, der ihn begreifen, sehen, aussprechen und erreichen kann: Ihn selbst! Nur er kann sich selbst in jeder Hinsicht erkennen. Er ist sein eigener Verstand, sein eigenes Auge, sein eigener Mund, seine eigene Gestalt.[1]

Durch Selbsterkenntnis erkennt der Vater in sich selbst eine Fülle von Superlativen: Nahrung, Wonne, Lust, Wahrheit, Freude und Ruhe. Alles, was er in sich selbst erkennt, übertrifft jede Weisheit, jeden Verstand, jede Herrlichkeit, jede Schönheit, jede Güte und Freundlichkeit, jede Größe, Tiefe und Höhe.

Dadurch, dass der Vater gleichermaßen sich selbst erkennt und das ist, war er erkennt, ist das von ihm Erkannte ihm ebenbürtig, und zwar in der Position des Sohnes, der seinen Ursprung im Vater hat.

Der Erkennende ist der Vater. Der Erkannte ist der Sohn.

Der Vater ist der Sohn und der Sohn ist der Vater. Beide sind eins – die Zweiheit in der Einheit – mit dem Vater als dem verborgenen nach innen gewandten Aspekt und dem Sohn als dem offenbarten nach außen gewandten Aspekt. Der Vater ist die Wurzel und wie die Wurzel verborgen. Der Sohn ist der Stamm und wie der Stamm sichtbar. Wer den Sohn sieht, sieht auch den Vater im Verborgenen. Über den Sohn kann man den Vater erkennen, weil Vater und Sohn eins sind, wie die Wurzel und der Stamm.

Der Wunsch des Vaters nach Erkenntnis

Obwohl der Vater unerkennbar ist und ihm alles gehört, will er sich doch erkennen lassen, wozu er durchaus in der Lage ist, indem er die Erkenntnis aus der Fülle seiner Güte und Freundlichkeit heraus schenkt. Diese Erkenntnis wird aber weder direkt noch auf einmal geschenkt.

Das liegt u.a. daran, dass eine unvermittelte und allumfassende Erkenntnis des Vaters aufgrund ihres gewaltigen jenseits jeglicher Vorstellung strahlenden Glanzes jedes Wesen erschlagen würde. Um dies zu vermeiden, hält sich der Vater in Schweigen zurück und sorgt für die Entstehung jener Wesen, denen er die Erkenntnis stufenweise schenken will. Dazu zeugt er zuerst seinen Sohn und dann, zusammen mit seinem Sohn, jene Entitäten, die für immer und ewig als seine Fülle, das Pleroma, existieren sollen.

Durch die Zeugung seines Sohnes zeugt der Vater sich selbst

Indem er sich selbst begreift und so erkennt wie er ist, ist der Vater seine eigene Ursache. Er ist deshalb ein ungezeugter sich selbst Zeugender, wobei das, was er denkend erzeugt, nicht von ihm selbst verschieden ist.

Der Vater bringt aufgrund seiner grenzenlosen Größe, Weisheit, Macht und Freundlichkeit all die Qualitäten hervor, die er in sich selbst mit Bewunderung erkennt. Dadurch projiziert er sich selbst nach außen als ein Wesen, das mit all diesen Qualitäten ausgestattet ist. Indem er dieses Wesen verherrlicht, bewundert, verehrt und liebt, verherrlicht, bewundert, verehrt und liebt er sich selbst.

Dieses Wesen ist der Sohn, der als ewiger Gedanke des Vaters genauso ungezeugt und verehrungswürdig ist wie der Vater. Als Gedanke und Erkenntnis des Vaters sitzt der Sohn tief in dem, was Meister Eckhart den „grundlosen Grund Gottes“ bezeichnete, und schweigt dem Vater gegenüber. In diesem von Schweigen, Weisheit und Gnade geprägten Zustand existieren Vater und Sohn ewig einander bewundernd und liebend.

Die Zeugung des Sohnes ist nichts anderes als die gedankliche Selbstreflexion des Vaters. Vater und Sohn stehen zueinander wie der Eine zu seinem Nous. Durch die Zeugung des Sohnes werden diese beiden Aspekte auf zwei Seinsstufen (Hypostasen) verteilt.

Denken, begreifen, erkennen und zeugen sind beim Vater und generell bei allen geistigen Wesen dasselbe. Indem der Vater sich selbst begreift, zeugt er sich selbst.

Kommentare zum Thema

Nun, da der Vater unbekannt war, wollte er sich von den Äonen erkennen lassen, und brachte daher durch seinen eigenen Gedanken, als hätte er sich selbst erkannt, den Einziggeborenen hervor, den Geist der Erkenntnis, der in der Erkenntnis ist. So wurde auch derjenige, der aus der Erkenntnis hervorging, das heißt aus dem Gedanken des Vaters, zur Erkenntnis, das heißt zum Sohn, denn „durch den Sohn wurde der Vater erkannt“ (ExcTh 7:1)

In diesem Exzerpt des Theodotos wird die Gnosis als der auslösende Moment für die Entstehung von Zweiheit aus der Einheit erklärt. Das Potenzial des nach innen gewandten Vaters drückt sich durch Gnosis im nach außen orientierten Sohn aus. Gnosis als der Urwille und Quelle des Alls. Der Vater erkennt durch seinen Nous sich selbst. Aus dieser Selbsterkenntnis, die zugleich erzeugende Kraft ist („Geist der Erkenntnis“), entsteht der Wunsch, erkannt zu werden. Aus diesem Wunsch geht der Sohn hervor, welcher die aktualisierte Erkenntnis des Vaters ist.

Der Religionswissenschaftler Einar Thomassen drückt es so[2] aus: „Der Vater kann nicht erkannt werden, weil es unmöglich ist, ihn zu benennen; selbst die brillantesten Attribute sind unzureichend, obwohl es legitim ist, sie als Verherrlichung auszusprechen, in Übereinstimmung mit der Fähigkeit derer, die verherrlichen (54:2-24). Nur der Vater ist in der Lage, sich einen passenden Namen zu geben (55:4f). Seine Selbsterkenntnis ist daher auch ein Akt der Selbstverherrlichung. Dadurch, dass der Vater sich selbst begreift, zeugt er eine Entität, die der Liebe, Bewunderung, Verherrlichung, des Lobes und der Ehre würdig ist, wofür es angemessen ist, den Vater zu lieben, zu bewundern, zu verherrlichen, zu loben und zu ehren. Dieser Akt des Begreifens und des Zeugens ist zugleich ein Akt der Verherrlichung, und die verherrlichte Entität ist der Sohn (56:7-22, ähnlich 58:8-14).

Zusammenfassung

Über den Vater

1) Er existiert ewig; 2) Er ist ungezeugt; 3) Er erkennt sich selbst; 4) Er hat sich selbst durch einen Gedanken gezeugt, da er dadurch existiert, dass er einen Gedanken von sich selbst hat; 5) Dieser Gedanke ist die Wahrnehmung, die er von sich selbst hat.

Die Wahrnehmung, die er von sich selbst hat, ist ewig und unveränderlich und stellt daher seine ewige Verfassung dar. Sie ist das Schweigen, die Weisheit und die Gnade.

Über den Sohn

Wie der Vater, hat auch der Sohn eine ganz spezielle Stellung inne: Er ist ungezeugter Erstgeborener (πρωτοτόκος – prototokos) und ungezeugter Einziggeborener (μονογενής – monogenes), d.h. der einzige seiner Art, weil direkt vom Vater offenbart.

Die Äonen, wie im nächsten Kapitel weiterausgeführt wird, sind ebenfalls ungezeugt, stammen jedoch indirekt vom Vater, nämlich aus der Interaktion zwischen dem Vater und dem Sohn:

Der Sohn existiert in Ewigkeit als der Unaussprechliche im Unaussprechlichen , der Unsichtbare im Unsichtbaren, der Unfassbare im Unfassbaren, der Unbegreifliche im Unbegreiflichen. Diese Formel drückt die gleichzeitige Einheit und Dualität des Vaters und seines Denkens aus.

 

Der Vater (ungezeugt)

Der Sohn (ungezeugt, vom Vater direkt offenbart)

Das All (ungezeugt, vom Vater indirekt offenbart)

 

 [1] Die vorliegenden Ausführungen stellen paraphrasierte Zitate dar. Quelle: Schenke, H., Bethge, H. & Kaiser, U. U. (2001). Nag Hammadi Deutsch: Bd. NHC I,1-V. 1. de Gruyter.

[2] Thomassen, E. (1980). The Structure of the Transcendent World in the Tripartite Tractate (Nhc I, 5). Vigiliae Christianae, 34(4), 358-375.

Schwerpunkte des Gnostizismus

Einleitung

DIE GNOSIS

DER ANFANG (DAS ALPHA)

  1. Der Vater
  2. Der Sohn
  3. Die Äonen

DER FALL

  1. Sophia
  2. Der Herrscher dieser Welt
  3. Der Mensch

DIE UMKEHR

  1. Die Reue der Sophia
  2. Die Mission des Sohnes
  3. Die drei menschlichen Gattungen

DIE ERLÖSUNG

  1. Der Erlöser
  2. Die Erlösung

DAS ENDE (DAS OMEGA)

  1. Aufstieg und Wiederherstellung

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